Auf Einladung durfte ich 2009 als Stipendiat eine Woche an der Nordsee verbringen. "Lied in Husum" sollte den ausgewählten Teilnehmer:innen, Pianist:innen und Sänger:innen aus ganz Europa das Kunstlied näherbringen und am letzten Tag in einem Wettbewerb - dem norddeutschen Liedpreis - münden. In der Jury saß unter anderem die legendäre Sopranistin Hilde Zadek, damals schon über 90 Jahre alt.
Wer Husum kennt, weiß wie schön es dort, ganz im hohen Norden Deutschlands, sein kann. Für dieses Abenteuer wurde ich mit einem sehr guten polnischen Pianisten zusammengespannt, wir haben die mehr als tausend Kilometer Autofahrt genützt um einander kennenzulernen. Gewohnt haben wir bei einer sehr lieben und kunstaffinen Gastfamilie, der Gedanke an die vom Hausherren köstlich zubereiteten Nordseekrabben lässt mir bis heute das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Von den wenigen Coachings abgesehen hatten wir relativ viel Zeit zum Üben und zur Wettbewerbsvorbereitung. In Husum sagen sich der Schweinswal und die Robben "Gute Nacht", als junger Mensch konnte man dort nicht viel unternehmen - ideal fürs intensive Studium, haben sich wahrscheinlich auch die Organisatoren gedacht. Wäre da nicht dieses kleine, feine Literaturcafé mitten in der Kleinstadt gewesen, in welchem wir ob des köstlichen Kaffees und der feinen Bäckereien unsere freien Nachmittage verbrachten. Irgendwann kam raus - wahrscheinlich hat einer der Tenorkollegen mit dem Singen angefangen - dass wir die Sänger:innen und Musiker:innen des norddeutschen Liedpreises sind. Im Café stand ein Pianino, wir waren ganz unter uns und jeder gab ein kleines Ständchen - eine willkommene Generalprobe für den Wettbewerb. Unser Vortrag hat die Inhaberin des Cafés so beeindruckt, dass sie die gesamte Runde zu Wein und Lammbraten eingeladen hat und dafür sogar ihr Café schließen wollte. Es gab nur ein kleines Terminproblem: die Einladung erfolgte am Donnerstag Abend, am Samstag war der Wettbewerb und dann am Sonntag gingen alle wieder getrennte Wege. Es blieb also nur der Freitag übrig.
Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen zu diesem Festmahl, das sich mehr und mehr in ein feucht-fröhliches Fest verwandelte.
Keiner der Anwesenden hatte in dem Moment an den für den nächsten Tag angesetzten Wettbewerb gedacht. Im Normalfall hätten sicher alle schweigend mit Kamillentee und Noten im stillen Kämmerlein gesessen und wären das Programm nochmal zur Sicherheit hundert Mal im Geiste durchgegangen. Hatte ich keiner der Anwesenden gesagt? Naja, Moment: Gerade als es begann, lauter und lustiger zu werden, verabschiedete sich ein Bariton (natürlich nicht ich), mit dem verräterischen Argument, sich für morgen fit halten zu wollen. Das muss vielleicht um 23 Uhr gewesen sein. Als ich das nächste Mal - um 3:30 - auf die Uhr sah, bot sich mir folgendes Bild:
Drei bis vier Pianisten spielten gleichzeitig auf dem Miniklavier und die gesamte Sängerschar stand auf den Sesseln, voller Inbrunst und Pathos Schuberts "Leise flehen meine Lieder" singend - ähh brüllend. Was für eine herrliche Sause - ein Fest, das einer Schubertiade gerecht würde. Der Franz hätte seine große Freude mit uns allen gehabt. Ich weiß nicht mehr, wann ich ins Bett gekrochen bin, es war jedenfalls schon taghell.
Und ich kann mich noch so gut an die wunderbar verdutzten Augen der Dozenten erinnern, als wir gemeinsam am Samstagmorgen um 11 die Generalprobe absolviert hatten und die ersten Krächzer im Saal verklungen waren. Es war einfach so schön, wie in der Nacht davor der Ehrgeiz von der Gemeinschaft und Musik besiegt worden war.
An dieser Stelle sollte ich vielleicht noch anmerken, dass ich musikalische Wettbewerbe ablehne, da sie jedem Geist des Musizierens widersprechen. Apropos Wettbewerb:
Gewonnen hat übrigens jener werte Kollege, der als erster den Heimweg angetreten hat.
Aber ein besonders nettes Detail dieser persönlichen Geschichte fehlt noch. Wenige Augenblicke vor dem eigentlichen Wettbewerb hörte ich - im Einsingzimmer meine Stimme suchend - einen Pianisten im Nebenraum den Erlkönig üben. Spontan habe ich die Tür geöffnet und mitgesungen. Wir haben das Lied gemeinsam fertig musiziert ohne ein Wort zu sagen.
Der Name des Pianisten: Sascha El Mouissi. Sascha hat übrigens dann ein paar Stunden später den Nordeutschen Liedpreis und - besonders verdient - den Preis für den besten Begleiter gewonnen.
Er hatte damals wohl den richtigen Sänger zugeteilt bekommen. Und ich hab vor allem eines gelernt: Man darf bei Professionalität nicht auf das Leben vergessen und freue mich “dankerfülltem Herz” bis heute, so einen schönen Abend erlebt zu haben.
2014 brauchte ich ganz dringend einen Einspringer für ein Konzert und rief spontan den mittlerweile in Wien studierenden Sascha an. Der Rest ist unsere persönliche Musikgeschichte und der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.