Es gibt Dinge in der Welt der klassischen Musik, die mir aus Interpretensicht manchmal viel zu kurz kommen. Die kreative Spontanität. Die Überraschungsmomente. Die individuelle, ehrliche und ungefilterte Emotion. Das Risiko. Die Authentizität.
In mir wohnt eine tiefe Sehnsucht nach dem ganz Individuellen, dem Unkopierbaren. Mit der Konzeption eigener Programme, der Suche nach neuem, sowie verschollenem Repertoire und gewagten Interpretationsansätzen habe ich Wege gefunden, diesem Wunsch nachzukommen. Ein nächster, mutiger Schritt waren Saschas und meine Eigenbearbeitungen von Volksliedern, in denen ich auch meine mir in die Wiege gelegte Liebe zur Volksmusik und dem Jazz voll ausleben kann. Es gibt fast nichts Schöneres, als auf der Bühne zu stehen und das Publikum mit etwas Neuem oder Eigenem zu überraschen. Seit unserem Entschluss, mit Arrangements und Bearbeitungen respektvoll aber aktiv in den musikalischen Schaffensprozess einzugreifen, haben wir in unserem Vortrag viel an Authentizität und Natürlichkeit gewonnen - und davon hat auch wiederum das klassische Repertoire profitiert. Gleichzeitig entziehen wir uns damit aber auch ganz bewusst den mitunter schon nervenden Vergleichen, die meist zur Folge haben, dass die Menschen vor lauter vorgefertigten Meinungen gar nicht mehr mit offenem Herzen zuhören. (Fischer-Dieskau hat das aber so gemacht…. Na, und?)
Zurück zum kreativen Schaffen: Es muss unglaublich gewesen sein, Schubert oder Mozart live erlebt haben zu dürfen. Von einigen Genies gibt es ja sogar Dokumente - beispielsweise existieren Aufnahmen von Richard Strauss, in welchen er seine Frau begleitend von Lied zu Lied - quer durch die Harmonien - improvisiert. Jazzy. Genial. Heute diskutieren manche Liedbegleiter ernsthaft, ob man mehr als ein Arpeggio vor einem Strauss-Lied machen darf.
Man darf als Interpret fast alles, so lange es mit Demut und Respekt vor der Musik passiert und nicht allein dem Zweck der Selbstdarstellung dient. Auch kleine Schritte in diese Richtung erzeugen eine große Wirkung. Mit Mut zum Risiko und zur Emotion ist schon viel erreicht. Ich schreibe diese Gedanken voll Verehrung für die genialen Werke, die wir Musiker:innem immer wieder zum Leben erwecken und Ihnen dabei unser persönliches, neues Emotionengewand verleihen dürfen. Je ehrlicher und individueller wir diesen Prozess gestalten können, desto authentischer und erlebbarer wird die Interpretation. Dann springt auch automatisch der berühmte Funke über - es entsteht spontane Begeisterung.
Dazu passt das heutige Video wie gemalt. Es ist Zeit für die erwartete Zugabe nach einem erfolgreich interpretierten Klavierkonzert. Der Pianist schlägt die ersten Akkorde an. Und dann greift der großartige Fazil Say plötzlich in (!) den Flügel. Black Earth.